Wir sind uns immer nahe

Unmöglich, daran zu glauben

Ich bin die Mutter von Emilio und werde sie immer sein.

Seit dem 22. September habe ich nur einen Gedanken: das Leben kann nicht mit dem physischen Tod zu Ende sein. Von einer heftigen Auflehnung gegen Gott gepackt, weigere ich mich zu beten.
Ich suche in mir die Beweise für ein Leben, das ich weder sehe noch spüre und das mir, von hier aus, unerreichbar scheint. Ich habe aufgehört zu arbeiten, entziehe mich jeglicher Aktivität. Jeden Tag gehe ich zum Friedhof und abends lege ich mich bald schlafen, mit dem Gedanken, dass mit jedem Tag wieder ein Tag weniger ist.
Häufig beobachte ich unerklärliche Phänomene, die sich wie Zeichen von Emilios Gegenwart in unserer Nähe darstellen. In solchen Augenblicken erfassen mich starke Gefühle, aber ich kämpfe dagegen, um mich nicht in ein trügerisches Spiel von Zufällen hineinziehen zu lassen. Mit meinen Gedanken habe ich mich in einen Keller zurückgezogen, den tiefsten und dunkelsten; da unten verteidige ich mich gegen die Anzeichen einer Existenz, die ich ablehne. Aber das Herz gibt nicht auf, es zwingt mich, diese kleinen, seltsamen Vorfälle zu beachten, auf die es mich, laut an meine verschlossene Tür klopfend, aufmerksam macht. Diese aufsehenerregende Aufgabe einer Chronik zwingt mich, für kurze Augenblicke aus der Deckung hervorzukommen, zu denken, mich zu fragen. Die Liebe zu meinem Sohn ist nicht eine Erinnerung. Sie ist Wirklichkeit. Ich habe ihn gern wie immer, mehr als immer, doch auf die gleiche Weise, die einzige die ich kenne.

Mein Gatte und ich werden mit größter Zuneigung umgeben. Unsere und die Freunde von Emilio sind bei uns. Ihnen gegenüber gelingt es mir, mich etwas zu öffnen. Wir reden, erzählen von unseren Erinnerungen, Träumen, Empfindungen. Dann fällt der Blick auf die Tür des Hauses, auf die Treppe, die zu Emilios Zimmer hinauf führt, auf die Fotos, auf die Blumen. Jeder von ihnen ist hierhergekommen, um uns Trost zu geben und zu erhalten, aber keiner von uns kann es.

Die Ordensschwestern der Klinik, wo Vater als Arzt arbeitet, sind uns nahe, werden uns zu Schwestern. Emilio ist in ihrem Haus geboren, sie haben ihn als guten, artigen, schönen Jungen aufwachsen sehen. Sie haben ihn als Kind und als Erwachsenen versorgt, sie haben ihn, in seinem ersten Chirurgenkittel, im Einsatz gesehen. Die OP-Schwester, rauh und doch so sanft, hatte bei der schwierigen Geburt entschlossen gehandelt. „Sie erzählt mir immer von meiner Geburt“, sagte Emilio fröhlich. Die Fröhlichkeit von Emilio war ansteckend. Auch jetzt drängt sie sich auf bei unseren Gesprächen, die nie traurige Erinnerungen sind. Dann bahnt sich ein schwaches Licht den Weg und dringt in meinen Keller ein. Ich beginne den Aufruf zum Gebet zu fühlen, vielleicht ist es das Gebet Emilios für mich. Langsam finde ich einen Schimmer von Glauben wieder.

Weihnachten naht. Die festliche Stimmung verletzt mich noch mehr, ich habe nichts anzubieten, nichts zu wünschen. Aber ich bin entschlossen, mich nicht wieder ins Nichts fallen zu lassen. Ich bitte das Jesuskind und seine Mutter um das Glück von Emilio. Ich denke an die Grotte von Betlehem, die von Licht erfüllt war. Ich bitte Gott, mich zu lehren, eine größere Liebe hervorzubringen als jene, die wir auf Erden kennen. In diesen Tagen habe ich aufgehört, Dankeskarten zu schreiben für die Hunderte von Briefen und Telegrammen, die wir erhalten haben. Diese Karten können schlichtweg nicht zusammen mit der Weihnachtspost ankommen. Mit dem neuen Jahr nehme ich das Schreiben der Karten  wieder auf, jeden Morgen verbringe ich einige Stunden am Schreibtisch.

Es ist Anfang Januar. Auf meinem Tisch liegt der elektronische Kalender von Emilio. Jeden Tag läutet er eine Viertelstunde vor zwölf Uhr. Ich lausche diesem Signal, das für mich wie ein Ruf ist, und ich antworte so gut ich es kann, im Schweigen, nur mit meinen Herzschlägen. Am vierten Januar, als wieder das Zeichen ertönt, versenke ich in meine Gedanken, die Feder auf dem Papier. Doch heute spüre ich, dass sie sich bewegt. Die Aufregung lässt mich erstarren, doch  versuche ich, meine Hand leichter zu machen. Die Feder bewegt sich. Ich habe keinen Mut, hinzuschauen, denn ich weiß bereits, was sie geschrieben hat. Ich versuche es erneut, immer noch ohne auf das Blatt zu schauen. Die Feder bewegt sich erneut. Und wieder erscheint, diesmal noch deutlicher, sein Name: Emilio. Ich habe so sehr Angst, dass es sich um eine Suggestion handeln könnte, um einen unbewussten Impuls, der unabsichtlich vom Verstand zu meiner Hand gelangt ist. Ich würde mich nie an seine Stelle setzen wollen. Noch will ich mich Illusionen hingeben, das würde mir wie eine Entweihung erscheinen. So beschließe ich, Vater nichts davon zu sagen. In den darauf folgenden Tagen, wenn ich am Schreibtisch sitze und der Kalender sein Signal gibt, versuche ich es ab und zu erneut. Die Feder bewegt sich, zwischen vielen unzusammenhängenden Zeichen kann man ziemlich deutlich einige Worte lesen. Eifersüchtig bewahre ich dieses unermessliche Geheimnis tief in mir, ich vertraue es nur meinen Gebeten an.

Am neunten Januar bringen mir Ignazio und Antonio ein Foto von der Kreuzfahrt, die sie im August in den Äolien gemacht hatten: Emilio ist am Ruder und lächelt, lebendig, mitten unter ihnen. Das Segelboot. Welch eine Leidenschaft! Auch mir gefiel es sehr, aber das Steuerrad habe ich nie gemeistert. So habe ich dies, von klein auf, ihm überlassen.

Silvia kennt mich gut, sie weiß dass ich dabei bin, mich gehen zu lassen. So besteht sie darauf, mich wieder zur Villa Flaminia zu bringen, die Schule von Emilio, die ich immer noch aufsuche. Über viele Jahre hinweg haben wir dort Theatervorstellungen mit unseren Söhnen und Hunderten von Kindern und Jugendlichen organisiert. Dies war eine wunderbare Erfahrung, eine unerschöpfliche Quelle an Freude, Zärtlichkeit, Freundschaft. Auch als unsere Söhne das Gymnasium bereits beendet hatten, haben wir das schöne Theaterspiel an ihrer Schule fortgeführt.
So ist auch in diesem Jahr der Moment gekommen, uns an die Arbeit zu machen. Um mich dazu zu bringen, sagt Silvia, dass sie meine Hilfe brauchen. Aber ich weiß, dass es genau umgekehrt ist: sie sind es, die mir helfen wollen, weil sie mich in Villa Flaminia gerne haben. Ich war die Mutter eines Schülers, der von allen geliebt wurde. Auch nach seiner Schulzeit fragte jeder, der mich traf: wo ist Emilio? Fast so als wunderten sie sich, uns nicht wie immer zusammen zu sehen. Schließlich habe ich Silvia versprochen, dass ich zurückkehren werde, dennoch schiebe ich es Tag um Tag auf. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, jenes Tor zu durchschreiten, den Garten zu durchqueren, die Halle, die Gänge und mich in das leere Theater zu setzen, so wie es uns damals gefiel. Niemand wird mich jemals wieder fragen: wo ist Emilio?

Es ist der zehnte Januar. Wir sind nach Spoleto gefahren, wo wir dabei waren, zu Dritt mit großer Begeisterung ein Haus zu restaurieren. Die Arbeiten sind unterbrochen worden, aber Vater möchte sie zu Ende führen. Ich nehme seine Entscheidung passiv hin, und die ganze Zeit denke ich nur daran, zurückzukehren, um zum Friedhof zu gehen. Es ist schon spät.
Wir eilen zur Kirche des Verano, um die kleine Kerze anzuzünden, die immer am selben Platz steht, neben dem Altar der Muttergottes. Sie weiß, in welchem Seelenzustand und mit welch wechselhaften Gefühlen ich diese kleine Geste täglich wiederholte. Der Friedhof wird soeben geschlossen. Vater begleitet mich nach Hause, wo mich zwei Freunde von Emilio besuchen. Sie bitten mich, in das Zimmer von Emilio gehen zu dürfen, dort finde ich ein Gedicht von Richard Bach. Auf dem Umschlag sehe ich zwei große Flügel und den Titel: Kein Ort ist weit weg.
Dann das Zitat eines Abschnittes daraus: Kann die materielle Entfernung uns etwa wirklich trennen? Wenn du bei jemandem sein möchtest, den du liebst, bist du dann vielleicht nicht schon da?
Am elften Januar gehe ich wieder zum Friedhof. Die Kerze, die wir gestern in der Kirche angezündet hatten, ist erloschen und nur zur Hälfte abgebrannt. Ich zünde sie wieder an, zusammen mit einer neuen. Ich fühle mich wegen des eiligen Besuches vom Vortag schuldig, und auch an diesem Abend habe ich wenig Zeit, da zu Hause Rina, die Patin von Emilio, auf mich wartet. Das Reden fällt schwer. Wir erinnern uns an sein Begräbnis, an einem warmen Tag, der freudvoll Licht und Farbe ausstrahlte: „Da war so viel Liebe. Großer Friede. Ein wunderbares Licht.“ Während ich rede, merke ich, wie ich die Worte derer wiederhole, die von sogenannten Nahtod-Erfahrungen  berichten. Mein Keller beginnt, sich zu erhellen. Ich begreife etwas, was man kaum in Worte kleiden kann, das aber erklärt, warum ich in jenem Moment nicht den Schmerz verspürte, der einen beim Abschiednehmen zerreisst. Stattdessen habe ich mich einer triumpfhaften Atmosphäre teilhaftig gefühlt, deren unermessliche, harmonische Schönheit ich wahrnahm.

Es ist der zwölfte Januar, ich kann es nicht weiter aufschieben, nach meinem Gang zum Friedhof werde ich zur Villa Flaminia gehen. Auf dem Friedhof gehe ich, nachdem ich die Blumen abgelegt habe, in die Kirche. Dort finde ich ein Boot aus Wachs, genau unter den Kerzenhaltern, wo die beiden Kerzen abgebrannt sind, die ich gestern entzündete.
Auf Wellen liegend, hat es einen kleinen Rumpf, den Mast und Fetzen von Segel, die sich oben am Stag verwickelt haben. Es ist sehr zart. Als ich es in die Hand nehme, entgleitet es mir und ein kleines Stück Wachs, das vielleicht das Wellenspiel vervollständigte, bricht ab. Aber das Boot ist intakt geblieben. Ich wickele es in ein Taschentuch ein und nehme es mit. Am Abend erwartet Vater, dass ich ihm erzähle, wie es mir in der Villa Flaminia ergangen ist. Denn er weiß, wie schwer es mir gefallen ist, aus meiner Isolation herauszukommen. Ich aber habe ihm etwas ganz anderes zu sagen: „Schau, Emilio hat uns ein Geschenk gemacht“. Und ich zeige ihm das Boot aus Wachs. Ich sage ihm immer noch nichts von unseren geheimen Blättern, aber indem ich dieses ungewöhnliche Geschenk betrachte, wird es auch und vor allem unmöglich, nicht daran zu glauben, dass unser Sohn uns schreibt.